Mit meinem Kollegen Dennis erlebe ich immer wieder spannende Momente. Als ausgewiesener Experte für Barrierefreiheit zeigt er mir ja regelmäßig meine noch nicht ausreichende Aufmerksamkeit für Barrierefreiheit auf. Heute hatten wir eine Fotosession.
Fotogen?
Als Sehender habe ich mir nie die Frage gestellt, wie ich zur Entscheidung komme, ob mir das Foto von mir "genehm" ist. Ich hab es mir angesehen - und gelöscht, wenn ich mich darin nicht wiederfand, meine fotogene Seite nicht entdecken konnte oder, ganz banal, die Augen gerade geschlossen hatte. Doch was weiß Dennis davon?
Weder hat er als Blinder eine Referenz auf die Flut der optischen Reize. Noch die Gewohnheit, wie man halt so aussieht - auf Bewerbungsfotos (seriös?), auf Insta (mit Filtern?) oder auf Tinder (verführerisch?) ... Was sind wir Sehende einem Stress ausgesetzt, uns in der jeweiligen Situation gegen die Bilder der anderen abzugrenzen und unser "Fotogesicht" aufzusetzen!
Ein bisschen neidisch war ich
Also ich in der Rolle Fotograf. Er in der Rolle Modell. Eigentlich brauchte er nur ein Bild, das als Illustration seiner Arbeitsumgebung für seinen Blogpost dienen sollte. Aufgabenstellung war:
Wir brauchen ein Aufmacherbild von dir für deinen Beitrag. Idealerweise zeigt es dich, wie du gerade die Aufgabe bearbeitest.
Easy?
Spannend die Diskussionen im Vorfeld
Wie willst du eigentlich rüberkommen? Welche Art von Seriösität, Expertentum, Selbstverständnis, Natürlichkeit usw. willst du darstellen und wie entscheiden wir, ob es das auch trifft?
In seiner typischen Art kam nur ein:
Was weiß ich schon.
Schnell war klar, wir brauchen Menschen (mehrere!), die das jeweilige Foto laut (bild)beschreiben - und Dennis hört zu. Anders als bei den typischen, knappen "Alternative-Beschreibungen" (= alt text, alt attributes or alt descriptions for images), die Blinden vom Screenreader vorgelesen oder anstelle von Bildern im Browser angezeigt werden, wenn die Verbindung schlecht ist, hatte er hier die Möglichkeit, durch gezieltes Nachfragen das Feedback in (s)eine gedachte Skala einzusortieren. Es brauchte einige Fotos, bevor die innere Skala "ja" sagte.
Geschlossene Augen gehen gar nicht
Interessant war folgendes Phänomen: Bei Aufnahmen, auf denen Dennis die Augen geschlossen hatte, hatten wir sofort den Impuls, diese Fotos zu löschen. Wir Sehenden empfanden sie als ungeeignet. Warum eigentlich? Hier drängt sich der Verdacht auf Sehgewohnheiten auf. Geht halt nicht. Ist ein schlechtes Foto. Qualifizierte Aussagen fanden sich nicht.
Finaler Schliff
Dann schaut man sich das "Gewinnerbild" an - und kennt sein GIMP-Bildbearbeitungsprogramm. Ein bisschen Farben tauschen, den Ausschnitt optimieren, spannende Akzente setzen, Sättigung anpassen. Ihr kennt das. Doch was bedeutet Sepia? Was greyscale? Was Fokus auf Details legen? Wem dient das?
Feedbackrunde
Fantastisch fand ich nach der Finalisierung des Fotos den Trust, den Dennis uns gegeben hat:
OK. Wenn ihr sagt, das trifft mich gut und erfüllt seinen Zweck, dann los.
Noch fantastischer war sein Kommentar nach der Veröffentlichung, denn er hatte sich von unbeteiligten Dritten ausführlich erläutern lassen, was alles wo und wie auf dem Foto zu sehen ist. Sein Feedback an uns:
Das Mikrofon hat doch ein ganz anderes Ansprechverhalten! So würde ich das nie einsetzen und es zeigt, dass die Situation gestellt war. Bitte achtet nächstes Mal auf den korrekten Einsatz des Equipments.