„Nachschub da, bevor die Halbzeitpause rum ist.“
So vollmundig lockt eine dieser Plattformen – und hat uns damit herausgefordert, die Probe aufs Exempel zu machen: Gilt das Werbeversprechen auch für Personen, die auf assistive Technologien angewiesen sind? Wie "flink" können sich blinde Menschen tatsächlich per Onlinekauf versorgen und beispielsweise eine einfache Flasche Cola Zero kommen lassen?
Das Ergebnis: Bei einem der drei getesteten Anbieter, dem Branchenriesen Gorillas, konnte ein Lieferauftrag gar nicht erst erteilt werden. (Zu dieser simplen Erkenntnis kam man allerdings erst nach einer gefühlten Ewigkeit mit vielen Umwegen!) Aber auch bei den anderen zwei Apps war der Weg hindernisreich und zeitraubend.
Halbzeitpause reicht nicht, um eine Bestellung abzuschicken
Zur Erinnerung: Eine Halbzeitpause dauert 15 Minuten. Ob die Bringdienste ihre angekündigte Lieferzeit einhalten, bezweifeln wir nicht - und das wurde ja auch schon vielfach anderswo getestet. Wir wollten lediglich wissen, ob der alleinige Bestellprozess uns bereits ins Abseits befördern würde.
Score: Möchten blinde Neukund*innen ihre Lieferung zur zweiten Halbzeit in den Händen halten, müssen sie spätestens eine halbe Stunde nach dem Spielanpfiff damit beginnen, sich einen Account in der App einzurichten. Heißt: Die Dauer einer Halbzeitpause reicht dafür überhaupt nicht aus!
Denn für Menschen, die aufgrund ihrer Sehbeeinträchtigung auf Screenreader angewiesen sind, braucht es - selbst im versiertesten Fall - mindestens zwanzig Minuten, sich im Menü zu orientieren, das Wunschprodukt zu finden und die nötige Registrierung zu durchlaufen.
First-Order-Prozedere erfordert Hartnäckigkeit und Fantasie
Sich zwischen schlecht beschrifteten Formularfeldern zurechtzufinden und nach mehreren vergeblichen Versuchen raten zu müssen, welche Eingabe erwartet wird, stellt sehbehinderte User insbesondere bei der Anmeldung vor einen Kraftakt. Dieser Frust führt wohl eher dazu, dass sie kurzerhand selbst zum Späti oder Discounter gehen oder eben Freunde um den Gefallen bitten.
Natürlich verringert sich der Aufwand beim zweiten Mal, weil dann die umständliche Anmeldung wegfällt. Voraussetzung ist allerdings, dass man nicht gleich beim ersten Anlauf durch das zermürbende Prozedere abgeschreckt und vergrault wird!
Der Videobeweis
Sie müssen sich unserem Fazit nicht anschließen. Wir haben alle Sitzungen aufgezeichnet. Machen Sie sich selbst ein Bild - ob mit voller oder eingeschränkter Sehkraft:
Die häufigsten Probleme
Keine, unzureichende oder gar falsche Beschriftung von Formularelementen, fehlendes Feedback beim Betätigen von Schaltflächen, inkorrekte Sprachausgabe oder -auszeichnung, Popups und Overlays, die für assistive Technologien nicht zugänglich sind ... - diese Hemmnisse gab es mehr oder weniger in allen drei Apps an mehreren Stellen. Im umständlichen Registrierungsprozess (mit den vielen geforderten Eingaben) wurden die Hürden beim Marktführer zur ausweglosen Sackgasse, bei den übrigen beiden Portalen zur Zeitfalle.
Statement von Flink (25.11.2021)
Wir haben alle drei Unternehmen bereits vor unserer Pressemitteilung über unsere Testergebnisse informiert. Public Affairs Lead Christoph Egels von Flink antwortete uns schon einen Tag später:
"Sie haben vollkommen recht, hier gibt es bei uns noch einiges zu tun. Flink ist allerdings auch noch ein sehr junges Unternehmen und arbeitet stetig daran sich zu verbessern und Probleme auszumerzen. Wir möchten zukünftig die komplette Gesellschaft bedienen können und niemanden ausschließen. Auch wissen wir, dass unser Angebot, wenn optimal umgesetzt Blinden und Sehbehinderten Menschen im Alltag durchaus sehr nützlich sein kann. Daher seien Sie versichert, dass wir daran arbeiten unsere App möglichst inklusiv zu gestalten.
Nach kurzer Rücksprache mit unserem Product Team kann ich Ihnen mitteilen, dass sowohl für unseren Webshops als auch die App auf die Nutzbarkeit mit Bildschirmlesegeräten und visuelle Komponenten wie u.a. Farbkontrast, Textgrößenanpassung gemäß der WCAG-Standards zu überprüfen. Bevor wir im nächsten Schritt einen Plan für die Verbesserung der Nutzbarkeit unter Einhaltung des European Accessibility acts anstreben.
Diese Schritte werden wir in Q1 2022 anstoßen."
Diese Reaktion ist - auch weil sie bisher die Ausnahme blieb - sehr erfreulich. Wir nehmen die Firma beim Wort, bleiben im Kontakt und werden zu gegebener Zeit die in Aussicht gestellten Verbesserungen überprüfen.
Testszenario
Thinking Aloud ist eine gängige Nutzer*innen-Testmethode, mit der Probleme bei der Benutzung z. B. einer Web-Applikation aufgespürt werden, indem die Gedanken und Empfindungen während der Durchführung einer Aufgabe laut ausgesprochen und aufgezeichnet werden. Üblicherweise werden diese Tests nur mit sehenden Proband*innen durchgeführt.
In unseren Usabilitally-Tests nutzen die Proband*innen assistive Technologien. Per Digitalkonferenz sind Teammitglieder anwesend und zeichnen die Thinking-Aloud-Protokolle auf. Die Audiovideodatei und eine schriftliche Auswertung zeigen die einzelnen Stolpersteine der Website auf. Der Name Usabilitally ist übrigens eine Zusammenziehung von Usability und Accessibility mit der verbreiteten Abkürzung A11y.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie man ohne Sehvermögen mit dem Notebook arbeitet, welche Hilfsmittel dabei zur Verfügung stehen und was für sie die häufigsten Hemmnisse im World Wide Web sind, empfehlen wir unsere Blogposts Wie blinde Menschen Computer nutzen und Barrieren bei der Internetnutzung.
Über uns
Die Gesellschaft zur Entwicklung von Dingen realisiert Lösungen für die digitale Souveränität unter Verwendung von Open-Source-Software. Leitprinzipien ihres Wirkens sind Nachhaltigkeit und Systemsicherheit, Barrierefreiheit und Datenschutz. Durch die Spezialisierung in verschiedenen Geschäftsbereichen ist die Firma breit und vielseitig aufgestellt. Typisch für die Teammitglieder: Sie schauen über den Tellerrand und stellen kluge Fragen.
Der Geschäftsbereich Broken Image bietet neben den Usabilitally-Tests auch klassische Barrierefreiheitstests an, z. B. Gutachten nach BITV oder WCAG, sowie die Erstellung und das Monitoring von Barrierefreiheitserklärungen. Und Beratung, wie man's besser macht, und Unterstützung bei der Umsetzung – das wird natürlich auch angeboten.
Gesellschaft zur Entwicklung von Dingen, Osloer Straße 17, D-13359 Berlin
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